"Die Atmosphäre in unserem Unternehmen ist harmonisch und familiär. Wir arbeiten in Teams und machen auch regelmäßig außerhalb der Arbeitszeit etwas zusammen. Wie in einer großen Familie helfen und unterstützen wir uns gegenseitig, wo wir nur können."
Solche oder ähnliche Beschreibungen der Arbeitsatmosphäre kennen wahrscheinlich die meisten. Auch Larry Page, Mitgründer von Google, sagte in einem Interview: „It’s important that people feel that they are part of the company and that the company is like family to them.“
Viel Nähe, lockeres Miteinander und enger privater Austausch können im Arbeitsleben sehr angenehm und sogar motivierend sein. Vor allem aber ist es vorteilhaft für Unternehmen, wenn das Team sich als Familie sieht und eine hohe Verbundenheit mit der Arbeit besteht. Die Grenzen zwischen Arbeit und Privatem verwischen allmählich und das kann zu gravierenden Nachteilen für die Mitarbeitenden führen – etwa entgrenzte Arbeitszeiten. Schreiben sich vielleicht gerade deshalb viele Unternehmen ein familiäres Berufsumfeld geradezu auf ihre Kultur-Fahnen?
Jedenfalls sollten bei allzu viel „Family-business“ die Alarmglocken läuten, und zwar zumindest aus folgenden Gründen:
- Unsere biologische Familie suchen wir uns nicht aus, sie ist eine Bindung, die ein Leben lang besteht – ob wir wollen oder nicht. Ein Unternehmen als Familie zu begreifen, kann uns emotional an den Job binden, und zwar stärker, als uns gut tut. Wäre eine Kündigung für die meisten nicht schon herausfordernd genug, erzeugt ein solcher Familienbegriff noch zusätzlich Gefühle der Verpflichtung. Oder aber umgekehrt – wenn sich das Unternehmen von uns als Mitarbeiter trennen möchte. Auch diese Situation ist an sich schon schwer genug, kein Mensch braucht zusätzlich das Gefühl, aus seiner „Familie“ ausgestoßen zu werden. Es ist also wichtig, dass wir uns von einem Job trennen können, wenn es nötig ist und wir ihn nicht als eine Bindung fürs Leben betrachten.
- Man muss nichts leisten, um Teil einer Familie zu sein (und zu bleiben). Wir sind es einfach, ganz ohne Bedingungen. Als Mitarbeiter aber haben wir quasi einen Tauschvertrag mit unserem Arbeitgeber. Wir tauschen unsere Arbeitsergebnisse, unsere Leistungsbereitschaft, unsere Produktivität gegen Gehalt, Urlaub, Karriere usw. Wir geben also etwas, um etwas zu bekommen. Aber wir sind in einem Abhängigkeitsverhältnis. Das heißt, sobald unsere Arbeitsergebnisse nicht ok sind, wir mit Strukturen oder Prozessen nicht klarkommen oder aber es dem Unternehmen wirtschaftlich schlecht geht, können wir entlassen werden. So funktioniert eine Familie nicht – dort können wir meist auch auf Rückhalt und Schutz hoffen, auch falls es längerfristig nicht gut läuft.
- Konstruktives Feedback ist ein wesentlicher Baustein einer lernenden Organisation. Es hilft uns dabei, besser zu werden. In vielen Unternehmen sind Feedbackrunden fester Bestandteil der Teamorganisation. Hierbei ist es allerdings wichtig, eine gewisse emotionale Distanz zu wahren, vor allem, wenn es um kritisches Feedback geht. Wenn ich es also nur schwer schaffe, die Kollegin, mit der ich auch privat viel unternehme, in einer Feedbackrunde in ihrer Rolle zu kritisieren, dann ist hier eine Grenze verwischt worden. Dieses leistungsorientierte Feedback gibt es eben in Familien eher nicht – wir benoten den Braten von Oma nicht oder geben unseren Geschwistern keine Leistungsbeurteilung am Ende des Monats.
- Wenn wir uns sehr stark mit unserem Arbeitgeber identifizieren, können wir das Gefühl haben, dass wir immer „on“ sein müssen – jederzeit verfügbar, jederzeit einsatzbereit. In Familien wird häufig getröstet, geholfen und gepflegt, weit über die eigenen Grenzen hinaus, falls es nötig ist. In der Arbeitsumgebung sollte Aufopferung allerdings keinen Platz haben. Für Überarbeitung, Burnout und ungesunde Arbeitsbedingungen werden Gehälter üblicherweise nicht gezahlt.
- In Arbeitsumfeldern, die sich selbst als familiär bezeichnen, verbringen Mitarbeiter sehr häufig auch privat Zeit miteinander. After-Office-Drinks, Helfen beim Umzug, Sonntagsausflug mit den Partnern, etc. Dagegen gibt es grundsätzlich nichts zu sagen. Negativ wird das nur, wenn es die Erwartungshaltung und den (unausgesprochenen) Druck gibt, regelmäßig die Feierabende mit den Kollegen zu verbringen oder an allen Teamevents am Wochenende teilnehmen zu müssen. Das ist nicht für alle Mitarbeiter immer stimmig. Man sollte nicht alles erzählen müssen – es gibt Grenzen zwischen dem, was man mit seiner Familie teilt, und dem, was man mit zur Arbeit bringt. Und dieses Bewusstsein darf auch in einer gut gelebten Unternehmenskultur nicht verloren gehen.
Ich bin schon öfter über dieses verklärte Familienbild gestolpert, das so gerne als Vorbild für Teams oder Unternehmen als Ganzes herangezogen wird. Es ist einfach nicht stimmig und ich denke, sehr unrealistisch und problematisch. Es geht vielmehr darum, faire Arbeitsbedingungen vorzufinden, offene und konstruktive Zusammenarbeit, klare Rollen, gemeinsame Ziele, Respekt, inspirierende Aufgaben und sorry, ja: equal-pay. Eine Familie haben wir schon…
In diesem Sinne wünsche Ich eine wunderbare Urlaubszeit - schöne und unbeschwerte Momente mit der Familie, die Familie, die immer da ist, auch wenn es manchmal anstrengend ist.
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