Marie war immer etwas schüchtern, sie gilt nicht als besonders sozial und hat nur wenige Freunde, weil sie eigentlich wenig Interesse an Menschen hat. Sie liebt Ordnung und Struktur und sie hat eine Leidenschaft fürs Detail. Was meinst du - ist es wahrscheinlicher, dass Marie Bibliothekarin oder Verkäuferin ist? (Geben Sie eine Antwort, bevor Sie weiterlesen.)
In Deutschland wurde im Vorfeld der neuen Regierungsbildung viel über die Legalisierung von Cannabis diskutiert. Die Grünen und die FDP waren sich dazu eher einig, die SPD nicht so ganz.
Olaf Scholz (SPD) sagt dazu am 6.9.2021: „Ich persönlich, das gebe ich gerne zu, war immer sehr skeptisch. … Ich kenne auch welche, die sich verloren haben darüber,.“ In ähnlichen Worten äußerte sich der damalige CDU-Chef Laschet: „Bei Cannabis bin ich skeptisch. … Ich kenne selbst im familiären Kreis Menschen, die danach richtig drogensüchtig und ganz krank geworden sind.“
Beide geben keine gute Begründung für ihre Skepsis. In der Tat unterliegt die Begründung dem Fehlschluss der Vernachlässigung der Gesamtmenge. Diesen Fehlschluss haben Sie wahrscheinlich auch begangen bei der Frage, ob Marie Bibliothekarin ist oder Verkäuferin. Der Sachverhalt ist einfach: Es ist wahrscheinlicher, dass Marie Verkäuferin ist. Warum? Weil es signifikant mehr Verkäufer*innen als Bibliothekar*innen gibt! Die Antwort „Bibliothekarin“, die die meisten Menschen geben, beruht auf der fehlerhaften Vernachlässigung der Gesamtmenge an Verkäufern und Bibliothekaren.
Analoges tun auch Scholz und Laschet in ihren Begründungen für ihre Skepsis in Bezug auf die Cannabis-Legalisierung: dass die beiden Menschen kennen, die dies oder das tun oder erfahren haben, ist für die Frage der Cannabis-Legalisierung völlig irrelevant. Warum? Weil das nur eine Handvoll Menschen ist, im Vergleich zu der Gesamtmenge der Cannabis-Konsumenten. Das ist, als würde jemand die Legalität des Autofahrens kritisieren, indem er anführt, dass er Menschen kennt, die schlimme Autounfälle hatten.
Für eine fundierte Einschätzung zu dieser Frage müsste man etwa Statistiken heranziehen: wie viele Menschen werden suchtkrank, wie ist dies im Vergleich zu anderen (legalen) Drogen zu sehen, etc. Alles andere bleibt eine - natürlich völlig legitime - persönliche Meinung, aber keine fundierte Empfehlung oder Einschätzung.
Sobald jemand eine Forderung oder eine Ablehnung ausdrückt, mit der Begründung, er kenne Menschen, die… etc. ist der Fehlschluss der Vernachlässigung der Gesamtmenge sehr wahrscheinlich.
Besonders häufig trifft man aktuell auf diesen Denkfehler, der "Prävalenzfehler" oder Base-Rate-Fallacy genannt wird, in folgendem Zusammenhang: Unter Impfskeptikern hält sich die Meinung hartnäckig, dass etwa die Hälfte der Patient*innen in den Kliniken geimpft seien und somit die Impfung gar nicht wirken würde und es egal sei, ob Menschen sich gegen Corona impfen lassen.
Das ist ein besonders gutes Beispiel für den Fehler der Vernachlässigung der Gesamtmenge. Es ist falsch, zu dieser Schlussfolgerung zu kommen, weil diese These die zugrundeliegende absolute Zahl der Geimpften und der ungeimpften ignoriert. Beispiel: Gruppe G (geimpft) besteht aus 1000 Menschen, in Gruppe U (ungeimpft) sind 100 Menschen. In beiden Gruppen erkranken jeweils 10 Menschen schwer und müssen im Krankenhaus behandelt werden. Auf den Stationen liegen also 20 Personen, davon die Hälfte geimpft, die Hälfte ungeimpft. Soweit richtig. Wichtig ist nun, dass die Betrachtung hier nicht endet! Die Wahrscheinlichkeit, in einer der beiden Gruppen zu erkranken ist nämlich ganz und gar nicht gleich und macht einen relevanten Unterschied: bei den Ungeimpften ist jeder Zehnte in Behandlung, von den Geimpften jeder Hundertste...
Die soll aber nur ein Beispiel von vielen sein, die man dazu finden kann und die diesen verbreiteten Denkfehler deutlich machen. Dieser Fehler tritt oft in Situationen auf, in denen die Beobachtung oder die Wahrnehmung der Situation besonders auffällig ist und dadurch das Urteil in überhöhtem Ausmaß (falsch) beeinflusst wird.
Das Beispiel der Impfung ist besonders aktuell, nicht weniger wichtig und nicht weniger falsch sind allgemeine Einschätzungen zu gesellschaftlich wichtigen Themen wie etwa die verbreitete Einschätzung der Kriminalität unter Fremden, die Wahrnehmung der homosexuellen Menschen unter HIV-Infizierten oder die Zuschreibung von Gewaltbereitschaft zu anderen Religionsgemeinschaften.
Wir sollten unser eigenes Denken häufiger überprüfen und zumindest versuchen, nicht in diese Falle zu tappen und vorschnelle Urteile vermeiden - und vor allem Vorurteile zu vermeiden...
Wie reagiert man am besten, wenn man das Gefühl hat, der Gesprächspartner unterliegt dem Prävalenzfehler?
- darauf aufmerksam machen, dass es nicht um wenige Beispiele geht, die man kennt, sondern um eine Gesamtmenge
- das Gegenüber fragen, ob es seine / ihre Aussagen statistisch stützen kann. Wenn nicht, weisen Sie darauf hin, dass es zu überprüfen wäre, ob der betreffende Punkt auch für eine relevante Menge von Menschen zutrifft.
"In der Regel ist die Annahme, dass die Ausnahme von der Regel die Regel ist, eher die Ausnahme." K. Karius
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Christina (Montag, 20 Dezember 2021 08:11)
Das spricht mir aus dem Herzen. hatte erst vor kurzem eine Diskussion über Gewalt bei ausländern. Sie vergewaltigen unsere Frauen.... Dabei sagen Zahlen etwas ganz anderes über unsere deutschen mitbewohner*innen.
Die Leute hatten schon immer Angst vor neuem, z.B die Pockenimpfung wurde auch abgelehnt, die menschen der moderne leben immer noch mit den kopfinhalten der vorzeit. Alles Neue ist erst mal mit vorsicht zu betrachten, man weiß ja nie. Durch die jahrhunderte ....
Ängste, Erfahrungen, Pubertäten, nicht aufgearbeitetes Erlebtes, der große Teppich, unter den man alles kehren kann, macht vieles einfacher, im moment.
Aber nimm die menschen wie sie sind. es gibt keine anderen. Konrad adenauer
Rundum: eine wunderbare weihnachtszeit und schöne stunden im kreis unvollkommener, lieber menschen.