Was macht Veränderung mit mir?

Wir sind mittlerweile seit fast einem Jahr in einer Situation, die viele gerne das "neue Normal" bezeichnen. Ich frage mich, ob sich das nun für mich persönlich zwischenzeitlich noch als "neu" oder gar schon als "normal" anfühlt? Menschen, die in Veränderungsprozessen stecken, durchlaufen 7 Phasen. So hat es Prof. Richard Streich in seinem Phasenmodell veranschaulicht. Kann man das auch auf eine nicht-berufliche Dimension anwenden? Ich probiere das einfach an meinem Beispiel aus...

 

Die erste Phase beschreibt er als Überraschung oder als Schock. Der einzelne erfährt von einer Veränderung und reagiert entsprechend ängstlich und wenig verständnisvoll. Man sagt sich selbst "Das kann ja wohl nicht wahr sein!" - und ich erinnere mich an diese Phase noch sehr gut. Ich weiß sogar noch sehr genau, welcher Tag der letzte vor dem Schock war. Mein Gefühl damals war irgendwo zwischen Neugier, Erschütterung und dem Glauben angesiedelt, dass das wohl alles nicht so schlimm werden würde. Prof. Streich sagt, dass es in dieser Phase der Veränderung besonders wichtig ist, dass es jemanden gibt, der erläutert, aus welchem Grund es wichtig ist, die Veränderungsschritte zu gehen, einen "sense-of-urgency" schafft. Darüber hinaus ist es wesentlich, dass alle einen vergleichbaren Informationsstand haben, damit es nicht zu unpassenden Gerüchten oder falschen Annahmen kommt. 

 

Hat man den ersten Schock überwunden, tauchen wir in die zweite Phase, der Ablehnung, ein. Wir leisten Widerstand und das mit großer Energie. So, als würden wir vor einem Aufzug stehen, der nicht kommt, und einfach noch ein paar Mal auf den Knopf drücken. Wir sagen uns "Das stimmt nicht und ich will es auch nicht". Ich erinnere mich kaum an eine Phase der Ablehnung bei mir persönlich, ich gebe zu, dass ich Covid-19 nicht von Beginn an so ernst genommen habe, wie ich es heute tue, aber mir war schnell klar, dass hier etwas im Gange ist, das man sich nicht wegwünschen kann. Gemäß dem Streich'schen Phasenmodell kann man diese Phase hinter sich lassen, wenn ein ausreichender Bezug zwischen der Veränderung und dem Individuum hergestellt werden kann und kommuniziert wird. So lag es für mich schon bald auf der Hand, dass es einen klaren Zusammenhang zwischen den Maßnahmen - Lockdown und Kontakteinschränkungen - und der Verbreitung des Virus gab. Also mein individuelles Verhalten war (und ist es noch) eine relevante Größe. Interessanterweise habe ich heute die Erinnerung, dass am Beginn der Pandemie der Widerstand, der für diese frühe Phase typisch wäre, eigentlich geringer war, als er es etwa heute ist. Aber vielleicht ist das nur eine Verklärung der Vergangenheit...

 

Die dritte Phase nach Streich ist die Rationale Akzeptanz. Wir fangen an zu denken, "naja, vielleicht stimmt es ja doch..." Wir fangen an, die Veränderungen auf intellektueller Ebene zu verstehen. Einen Haken hat die Sache in dieser Phase: wir verstehen, aber wir sehen noch nicht ganz ein, was das alles mit uns persönlich zu tun hat. Ich erinnere mich tatsächlich an Bekannte, die noch im Sommer in Urlaub gefahren sind, obwohl die Zahlen langsam schon wieder gestiegen sind. Wer könnte es nicht verstehen - entspannter Urlaub, überall ist wenig los, super wenn sich alle zurücknehmen, aber wir fahren doch jedes Jahr nach Kroatien... Ich war nicht im Sommerurlaub, gebe aber an dieser Stelle zu, dass ich hin und wieder auch großzügig zu mir selbst war, wenn es um die Einhaltung der Maßnahmen ging. Ich bin überzeugt, dass heute - ein Jahr nach Beginn der Pandemie - noch sehr viele Menschen in dieser Phase stecken und große Schwierigkeiten haben, ihren maximalen Beitrag zu leisten. Bei beruflichen Change-Management-Prozessen wäre es jetzt wichtig, dass jemand das Gesamtziel deutlich macht und dem einzelnen das Gefühl nimmt, am meisten betroffen zu sein. Das Gefühl, dass alle in einem Boot sitzen ist wichtig und dass uns jemand hilft, von einer Problemorientierung (wie soll ich das alles hinkriegen?) zu einer Lösungsorientierung (was würde ich brauchen, um noch aktiver mitzutun?) zu kommen. Und ja, in der Tat wäre es für mich hilfreich, überblicken zu können, was die Perspektive sein könnte. Aber ich will auch nicht der Mensch sein, der sich auf diese Perspektive festnageln lassen will. Damit will ich sagen, wie schwierig es wohl sein muss, in einer solchen Situation Perspektive, Zuversicht und konkrete Schritte und ihre Wirkungen zu vermitteln.

 

Die vierte Phase ist der Wendepunkt des Prozesses: die emotionale Akzeptanz. Das heißt, wir verstehen und akzeptieren die eigene Involvierung und die persönliche Veränderungsnotwendigkeit. Jetzt machen wir uns wirklich Sorgen, wir haben Angst und fühlen uns unwohl. Wir sind im sogenannten "Tal der Tränen", Das ist die emotionalste Phase. Wir haben Sorge, dass es nie wieder gut wird, haben Sehnsucht nach unseren früheren Gewohnheiten, Mir fehlt vor allem der Kontakt zu Familie und zu Freunden, die Spontaneität für Unternehmungen. Im betrieblichen Kontext wäre es in dieser Phase wichtig, dass wir lernen - neue Kompetenzen, neue Prozesse, neue Verhaltensweisen, die uns helfen, mit den neuen Herausforderungen klarzukommen, es wäre wichtig dass wir den Rahmen für Austausch schaffen. 

 

Nach dem "Tal der Tränen", also der emotionalen Erkenntnis, dass wir etwas ändern müssen, werden wir frei für neue Lösungsansätze. Wir sind in der Phase des Lernens - wir versuchen nun wirklich, Neues auszuprobieren und tasten uns an die neue Situation heran. Unsere Einstellung wird positiver und wir entwickeln Ideen und beginnen zu experimentieren. Hin und wieder sagen wir uns, "Es geht ja tatsächlich!" Dabei erleben wir zwar immer wieder Rückschläge, aber auch Erfolge. Hier ist allerdings die Gefahr am größten, wieder in die Phase 2 zurückzufallen. Ich selbst habe zum Beispiel vollständig auf online-Coachings umgestellt, etwas was ich mir vorher nie habe vorstellen können, aber es funktioniert hervorragend! Ich habe so viele Beispiele gesehen, dass Menschen neue Fähigkeiten aber auch ganz neue Hobbies entdeckt haben. Videokonferenzen und Zoom-Calls machen mittlerweile nur noch den wenigsten Angst. Das funktioniert auch im Freundeskreis ganz gut - nette Menschen, die man gerne wieder mal sehen und sprechen würde, ein Laptop und ein Glas Wein. Besser als gar nicht sehen...

 

Die nächste Phase ist die Phase der Erkenntnis. Uns wird klar, wie die Zukunft aussehen kann und wir haben eine positive Grundeinstellung und mehr Selbstvertrauen im Umgang mit der Situation und den neu erworbenen Kompetenzen. Wir finden Lösungen und Strategien, die uns weiterbringen. In dieser Phase liegt die Wahrnehmung der eigenen Kompetenz im Modell nach Streich höher, als am Beginn des Veränderungsprozesses. Wir haben als etwas gelernt! Wir übernehmen Verhaltensweisen in unser Handlungsrepertoire, das sich dadurch erweitert hat. Wir haben gelernt, dass wir Vertrauen in uns selbst haben können - der wesentlichste Baustein für kommende Herausforderungen.

 

Die finale Phase ist die der Integration, das bedeutet, dass Neues Verhalten langfristig integriert wird. Die Veränderung ist vollständig akzeptiert und in unseren Alltag integriert, als selbstverständlich wahrgenommen.

 

Für dieses Modell ist es charakteristisch, dass nicht alle am Prozess Beteiligten zur gleichen Zeit in der selben Phase sind. Das heißt, dass nicht alle die Phasen mit dem gleichen Tempo durchlaufen. Im unternehmerischen Umfeld ist es daher bei großen Veränderungsprozessen wichtig aufmerksam dafür zu sein, wer gerade wo ist und sich zu überlegen, wie man helfen kann, dass Kollegen oder Mitarbeiter in die nächste Phase kommen können.

 

Ich selbst bin vielleicht angesichts der Corona-Situation in der Lernphase - ich probiere vieles aus und vieles funktioniert auch gut. Eine Klarheit darüber, wie unser bzw. mein Leben in Zukunft aussehen wird, habe ich aber noch nicht. Allerdings bin ich gleichzeitig sehr sicher, dass sich die Umstellungen des vergangenen Jahres nachhaltig darauf auswirken wird, wie wir zusammenarbeiten und wie wir als Gesellschaft miteinander umgehen. Und wahrscheinlich ist die Frage, wie schnell und wie gut wir das Thema Digitalisierung in allen Lebensbereichen vorantreiben können so wichtig geworden, dass sie zu einer der entscheidenden Fragen geworden ist, ob eine Ökonomie oder eine Gesellschaft in der Zukunft wettbewerbsfähig bleibt oder abgehängt werden wird. Ich bin optimistisch und habe meinen Glauben an die Lösungskompetenz des Menschen nicht verloren, auch nicht an Werte wie Empathie und Solidarität. Denn auch das ist klar geworden: ohne Rücksicht auf unsere Mitmenschen hat das Zusammenleben weder in der Vergangenheit funktioniert und das wird in Zukunft noch weniger möglich sein. 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Birgit Holzmann (Sonntag, 31 Januar 2021 08:42)

    Sehr interessant. Toll geschrieben. Mir ging es ähnlich wie dir. Ich kann mich in allen Phasen wieder finden, außer der Phase 2. Diese kam bei mir teilweise später auf, als Kindergärten und Schulen geschlossen wurden und Erwachsene weiter ins Großraumbüro fuhren. Aber ich denke auch das haben jetzt viele (bestimmt noch nicht alle) Arbeitgeber verstanden, dass es eben nur zusammen funktioniert und Homeoffice keine Urlaubsoase ist, sondern auch dort wirklich gearbeitet wird.